Kommentar zu Alfred Döblins Erzählung
Die Ermordung einer Butterblume

Übersicht

I. Vorstudien

A. Dramatische Ereignisse in des Dichters Jugendzeit

1. Stettin

Stettin, Verwaltungshauptstadt von Pommern, hatte im Jahre 1900 ca. 210 000 Einwohner. 93 % von ihnen waren evangelisch, 4 % katholisch; die übrigen Einwohner waren im Wesentlichen Juden. Diese Glaubensgemeinschaft bestand aus etwa einem Drittel der (1871) rund 13 000 pommerschen Juden; 1875 konnten sie hier die größte Synagoge des Landes einweihen.

In dieser Stadt wurde am 10. August 1878 Alfred Döblin als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Dort verlebte er seine Jugendjahre bis zum Oktober 1888, als die Mutter aufgrund der Familientragödie mit ihm und seinen Geschwistern nach Berlin zog.

2. Berlin

Als er um 1908 (wieder) in Berlin lebend seine Erzählung schrieb, hatte er drei bedeutsame Schicksalsschläge erlitten:
  1. Die Familientragödie: Er war zehn Jahre alt, als sein Vater einer jungen Geliebten zuliebe die Familie verließ und mit ihr nach Amerika ging. Sofort war die Familie so verarmt, daß er das Gymnasium in Stettin, in dessen erste Klasse er gerade erst eingetreten war, verlassen mußte.
  2. Zwei Jahre später konnte er, mit Unterstützung eines Bruders seiner Mutter, als Freischüler das Gymnasium in Berlin besuchen, allerdings wieder ab der ersten Klasse. Danach kam eine für ihn qualvolle Schulzeit, da er, bereits unter dem bedrückenden Gefühl einer sozialen Deklassierung leidend, auch noch wegen schlechter Zensuren in Mathematik zweimal sitzenblieb. Er war 22 Jahre alt, als er das Abitur schaffte.
  3. Während seiner Studienzeit in Freiburg hatte er ein Liebesverhältnis, aus dem ein Kind hervorging. Dieses Verhältnis ging aus unbekannten Gründen in die Brüche. Der Verlust der Geliebten wird ihn tief getroffen haben; denn es ist so gut wie sicher, daß die in der Erzählung bildhaft dargestellten Phänomene emotionaler Störungen des Michael Fischer auch bei ihm persönlich in nicht zu verifizierendem Ausmaß aufgetreten sind.

Es war vielleicht auch für ihn absehbar, daß sich das Liebesverhältnis, das er als bald dreißigjähriger Assistenzarzt mit einer sechzehnjährigen Protestantin hatte, nicht glücklich enden würde; denn er hat diese Ersatzhandlung, gewissermaßen eine Reaktion auf den Verlust seiner Geliebten in Freiburg, in die Erzählung hineingenommen. Als das Mädchen bereits schwanger war, heiratete er nicht sie, sondern eine jüdische Frau.

(Um 1880 begann aufgrund mehrerer Schülerselbstmorde eine öffentliche Dauerdiskussion über die angebliche gymnasiale Überbürdung. Daraufhin setzte die preußische Regierung eine Kommission ein, die in ihrer Denkschrift von 1884 feststellte, daß sich die Lehrziele seit fünfzig Jahren im Wesentlichen nicht verändert hätten; es würde jedoch neuerdings strenger darauf geachtet, daß sie in allen Fällen auch tatsächlich erreicht würden. Die Schulüberbürdungsdebatte kam der beginnenden Reformpädagogik zugute, deren Ziel es war, die Stoffülle zu reduzieren, Schulangst abzubauen, die körperliche Ertüchtigung der Schüler zu verbessern und deren Individualität zu achten.)

B. In Goethes Welt

Als Student in Freiburg war sich Alfred Döblin sehr wohl der Tatsache bewußt, daß nicht weit von ihm in Straßburg Goethe gleichfalls eine Zeitlang Student gewesen war. Einiges aus dessen Leben und Werk hat er in seine Erzählung hineingenommen. So steigt Michael Fischer wie einst Goethe nach St. Ottilien hinauf, dem auf dem Odilienberg liegenden Kloster der Patronin des Elsaß und von Arlesheim. (Später hat Goethe in den Wahlverwandtschaften mit Ottilie jene Frau bezeichnet, die den Tod eines Kindes verursacht.) Ebenso ist mit dem Köpfen von Butterblumen die Assoziation mit Goethes berühmtem Gedicht Heidenröslein gegeben, in welchem ein Knabe das Röslein auf der Heiden brach. (Im Gegensatz zur Butterblume kann sich das Röslein verbal wehren.) Möglicherweise geht auch die Benennung der Butterblume mit „Ellen”, der Kurzform von Helena (und im 19. Jahrhundert aus England übernommen), auf Goethes Faust, d. h. auf die dem Faust zugrunde liegende Historia von D. Johann Fausten von 1587 zurück. Dort wird im 49. Kapitel berichtet, daß D. Faustus den Studenten, die ihn am Weißen Sonntag mit Essen und Trank versorgt unversehens zum Nachtessen aufgesucht hatten, auf ihren Wunsch hin ›die schöne Helenam aus Graecia, derowegen die schöne Stadt Troja zugrund gegangen‹, als ›Geist in Form und Gestalt, wie sie im Leben gewesen‹, vorstellte. ›Diese Helena erschiene in einem köstlichen schwarzen Purpurkleid, ihr Haar hatt sie herabhängen, das schön, herrlich als Goldfarb (sic.) schiene, […] rote Bäcklein wie ein Röslein, ein überaus schön gleißend Angesicht, […] daß die Studenten gegen ihr in Liebe entzündet waren. […] Die Studenten aber, als sie zu Bett kommen, haben sie vor der Gestalt und Form, so sie sichtbarlich gesehen, nicht schlafen können‹.

C. Der Kaufmann und sein soziales Umfeld

Mit „eins, zwei, drei” wird gleich zu Beginn der Erzählung eine wichtige Funktion des Kaufmanns hervorgehoben: Der Umgang mit Zahlen (Erlöse, Kosten etc.). Michael Fischer ist Chef eines Büros mit Angestellten und Lehrlingen, und er hat eine Wohnung, welche von einer Wirtschafterin instandgehalten wird: Diese Personen bilden die Kulisse für jene Phänomene seiner psychotraumatischen Erkrankung, die von seiner Umwelt wahrgenommen werden.

D. Beispiele bisheriger Interpretationen

Die Erlebnisse des Michael Fischer sind ungewöhnlich und erinnern an das Grimmsche Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. Das ganze Geschehen ist rätselhaft, so daß sich der Leser nach Hilfe umsieht, nach Interpretationen also, die das Äußere durchdringen und den Kern der Erzählung freilegen. Die Sichtung der verfügbaren Kommentare bringt dann allerdings die Erkenntnis, daß es unterschiedliche Beurteilungen der Handlung gibt. Die nachfolgend angeführten repräsentativen Beispiele sind als Taschenbuch, Zeitschrift und Internettext erhältlich; von Marcel Reich-Ranicki, der diese Erzählung in seinen Kanon deutscher Erzählungen aufgenommen hat, liegt keine Beurteilung vor.

Hinweis: Der in den beiden dtv-Ausgaben enthaltene Text ist die Basis der Interpretationen: (Seite dtv alt / Seite dtv neu). Aus diesen als Zitat entnommene Textstellen sind mit „ ” gekennzeichnet, andere Zitate mit › ‹. In den angeführten Interpretationen enthaltene Anführungszeichen sind unverändert geblieben.

1. Deutscher Taschenbuch Verlag

a) dtv-Taschenbuch 1490/12534 (Vierzehn Erzählungen, Nachwort)

Über mehrere Jahrzehnte hinweg prägte Walter Muschg mit seinem Nachwort die Meinung des Lesepublikums. Über Alfred Döblins ersten Erzählband von 1912 schreibt er: ›Der Ruhm seines ersten Buches beruhte vor allem auf einigen Kabinettstücken tiefenpsychologischer Schilderung, in denen er den Ausbruch der im Normalbürger schlummernden seelischen Unterwelt beschreibt. In einem Augenblick gerät ein pedantisch umzirkeltes Menschendasein aus den Fugen, oder ein latent drohender Zwang führt es schrittweise und unausweichlich in die innere Katastrophe.‹

Die Erzählung selbst charakterisiert er wie folgt: ›Das Musterbeispiel dafür ist „Die Ermordung einer Butterblume“, in der dem kleinen Geschäftsmann Michael Fischer eine spazierenderweise mit dem Stock geköpfte Blume zum Verhängnis wird. Diese scheinbar zufällige Begebenheit wächst dem Spießer über den Kopf, denn sie ist das Symptom einer in ihm vorbereiteten Krise und löst den Mechanismus der beginnenden Geisteskrankheit aus, durch den die fixe Idee zum unheilbaren seelischen Defekt wird. Als exakte Beschreibung einer Psychose erinnert diese Geschichte an die Novelle „Lenz“ des von Döblin geliebten Georg Büchner.‹

b) dtv-Taschenbuch 13199 (Zwölf Erzählungen, Nachwort, Informativer Apparat)

Seit 2004 steht im Nachwort eine Interpretation von Christina Althen: ›Spannend-skurril interpretiert Döblin das von Goethe bekannte Thema des Blumenköpfens („Heidenröslein“), ebenso das gegenteilige Motiv des Ausgrabens und Verpflanzens („Gefunden“). Während Goethes Blumenfreund im Einklang mit der Natur ist („Ich ging im Walde / So für mich hin“), ist diese für Herrn Fischer dämonisch, ihre bedrohliche Vitalisierung ist Projektion seines seelischen Zustandes. Wie Georg Büchners Lenz in dessen gleichnamiger Novelle findet er sich in seinem Wahn nicht mehr zurecht. Die Spaltung von Ich und Welt/Natur wird in die psychopatische Spaltung der Figur hineingenommen. Innere Monologe drücken die zunehmende Verwirrung aus, Adjektive werden verbalisiert („dumpfte“), die Betonung der Verben dynamisiert die Ereignisse („wippte“, “schnupperte“, „horchte“, „flüsterte“); Groteske („mit süßem Mündchen“) und Karikatur („Versteht Ihr kein Deutsch?“) lockern den Gang der Entwicklung auf. Wie in der „Tänzerin“ oder „Astralia“ zeichnet Döblin ein scharf konturiertes Psychopathogramm; die poetische Inszenierung einer paranoiden Entwicklung mit Abwehrritualen und Wahnausbreitung ist ungebrochen fesselnd, auch hundert Jahre nach ihrer Entstehung. Fischers Umgang mit der Butterblume entspricht sein soziales Verhalten, er ohrfeigt und schikaniert die Lehrlinge. Scheinbar hat er am Ende Wald-Natur-Menschsein „übertölpelt“, einen Lernprozeß gibt es nicht. Es bleibt die groteske Machtphantasie des Ich: „Er konnte morden, so viel er wollte.“ Die „Butterblume“ läßt wie die anderen Erzählungen des Zyklus viele Deutungen zu, aber der Lesefluß ist nicht beeinträchtigt durch programmatisch zerstückelte, paradoxe Schreibweise.‹

2. Literaturkritik (Nr. 6, Juni 2000)

Unter der Überschrift Tatsachenphantasien oder: Immer Arzt und Dichter zugleich schreibt Christine Kanz zu diesem Werk Alfred Döblins folgendes:

›"Neben Pflanzen, Tieren und Steinen" liebe er "nur zwei Kategorien Menschen: nämlich Kinder und Irre", sagte Döblin einmal. Damit teilte er nicht nur etwas von seinem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber seiner Umwelt mit, sondern verriet auch seine Hingezogenheit zu allem Irrationalen, Naturhaften und Animalischen, zu den von der modernen Zivilisation (noch) nicht zurechtgestutzten bzw. zu den aus ihr wieder entlassenen Naturen.

Zu einer solchen Natur wird zum Beispiel "Herr Michael Fischer". In Döblins kurioser Novelle "Die Ermordung einer Butterblume" kommt er zunächst als die Inkarnation eines spießbürgerlichen Knotenmannes des wilhelminischen Zeitalters daher, verschwindet aber am Ende, nach einer Reihe unmotivierter Affektausbrüche, im dunklen Bergwald. Beginn und Höhepunkt seiner vitalistischen Eskapaden ist die Vergewaltigung einer Butterblume namens Ellen. Die Vernichtung des "Herrn" als selbstbeherrschtes, autonomes Subjekt läßt sich freilich nicht als Bestrafung im Sinne poetischer Gerechtigkeit werten. Denn der irre gewordene Held in seinen Gefühlswallungen und Schuldkomplexen wird ganz und gar nicht als Unhold geschildert. Vielmehr ist vor dem Hintergrund der Aussage Döblins über seine Lieblingsgeschöpfe anzunehmen, daß seine Sympathie auch hier der Verkörperung des Vitalen gilt. Fischer weint zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Doch enthält Döblins Plädoyer für die Freisetzung von Emotionen zugleich auch eine Warnung vor zu großer Übertreibung. Übermäßige Irrationalität, so führt der Text anhand von Fischer vor, endet in geistiger Umnachtung und Selbstzerstörung. Die Novelle läßt sich gleichsam als Mahnmal lesen. Das moderne, zivilisierte Subjekt wird an die Fragilität seiner selbst erinnert. Oder, wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom in einem anderen Zusammenhang formulierte, an etwas, das es längst vergessen zu haben geglaubt hatte: "daß es an Ursprünge gebunden ist, und nicht an Ziele; daß seine Autonomie (bestenfalls) eine rettende Fiktion ist."

Der kleine, vergnüglich zu lesende, 1910 erstmals publizierte Text enthält eine poetologische Grundkonstante, die das Gesamtwerk Döblins durchzieht: das immerwährende Schweben zwischen zwei Polen. Das Dunkle, die abweichenden, verqueren Schattenseiten menschlicher Existenz literarisiert zu haben, ist ein Verdienst des Verfassers von "Berlin Alexanderplatz", diese mit fast naturwissenschaftlicher Präzision wieder in das Licht der Vernunft gerückt zu haben, das andere.‹

3. www.hausarbeiten.de

Außer Wikipedia (hierzu kein Kommentar) bieten auch andere websites Erläuterungen zu literarischen Werken an. Die bei www.hausarbeiten.de abrufbare Studie von Victoria Weiss wurde formal etwas verändert.

›Des öfteren wurde Döblins Novelle „Die Ermordung einer Butterblume“ als psychatrische Studie, sogar als eine exakte Beschreibung einer Psychose und eine regelrechte Schizophrenie-Studie bezeichnet. Und in der Tat weist der Protagonist verschiedene Symptome psychischer Krankheit auf. So leidet er unter Zählzwang. Einen solchen Zwang, bei dem der Betroffene sich getrieben fühlt, automatische Handlungen auszuführen, nennt man in der Psychologie einen Automatismus. Auch weist Herr Fischers Verhalten manieristische Züge auf. Seine Verhalten wirkt oft unnatürlich und posenartig. „In die Brust warf sich Herr Michael Fischer.“ (9/65) Ebenfalls leidet der Protagonist unter einer Vielzahl verschiedenartiger Halluzinationen. Er hat optische Halluzinationen, sieht Szenen, die er als real empfindet, Geruchs,- und Geschmackshalluzinationen, akustische Halluzinationen mit Stimmenhören und Hören von Geräuschen und auch körperliche Halluzinationen, bei denen er meint berührt worden zu sein. Auch hat Herr Fischer Wahnwahrnehmungen. Wahnwahrnehmungen sind reale Wahrnehmungen, die für den Betroffenen eine veränderte, abwegige Bedeutung erlangen. So meint Herr Fischer beispielsweise, als er der Blume den Kopf abschlägt, er hätte sie ermordet. Als er einen Harztropfen aus einem Baum treten sieht, glaubt er, der Baum weine. Sein Wahn nimmt oft verschiedene Gestalt an. So leidet er unter Verfolgungswahn, teilweise an Grössenwahn und nach dem Mord an der Butterblume besonders an Versündigungs- und Schuldwahn. Auffällig ist auch, dass Herr Fischer seinen Körper oft nicht wahrnimmt. „Inzwischen gingen seine Füsse weiter“(11/67). Diese Erscheinung nennt man Depersonalisation. In seinem Denken und Handeln fühlt er sich oft fremdbestimmt. Seine Gedanken empfindet er, als würden sie ihm aufgedrängt, sein Handeln, so, als sei es von aussen gesteuert. Oft leidet Herr Fischer unter Angstzuständen, die mit seinen Halluzinationen einhergehen. Diese äussern sich in Schweissausbrüchen, Herzrasen und Mundtrockenheit. Der Protagonist weist ferner Erscheinungen von Stimmungslabilität auf; seine Stimmungen schlagen abrupt um. Auch kann er seine Gefühle schwer in Zaum halten. Seine Gefühlsäusserungen sind oft bei geringen Anlässen übertrieben und unkontrolliert. Er ist leicht reizbar und neigt zu Agressivität. Zum Beispiel geht er auf Pflanzen los, und er schlägt seine Lehrlinge. Bezüglich der Blume bestehen bei Herrn Fischer gegensätzliche Gefühle nebeneinander. Das führt bei ihm zu einem angespannten Zustand, den er als quälend empfindet. Nach seinem ersten Erlebnis im Wald sitzt er lange regungslos auf seinem Bett. „Nun saß er ganz blöde in seinem Schlafzimmer[…]“ (15/72). Er befindet sich in einer Phase motorischer Bewegungslosigkeit. Dies sind sicherlich noch nicht alle krankhaften Verhaltensweisen des Protagonisten. Fakt ist jedoch, dass all diese Erscheinungen Symptome einer schizophrenen Psychose sind. Es wurde sogar gesagt, Döblin summiere exakt lehrbuchmässige Symptome.‹

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II. Die thematische Analyse der Handlung

A. Der Handlungsbeginn / Die Gattungsfrage

Die Erzählung wird üblicherweise als Novelle bezeichnet. Diese ist dadurch charakterisiert, daß durch eine neue, unerhörte, aber faktisch mögliche Einzelbegebenheit ein einziger Konflikt ausgelöst wird, der in gedrängter, geradlinig auf ein Ziel hinführender Berichtsform ohne Einmischung des Erzählers abgehandelt wird. Diesen Anforderungen genügt die Butterblume jedoch nicht, denn ein Pflanzenteil zum Beispiel führt ein Eigenleben: „Plump sank jetzt der gelöste Pflanzenkopf und wühlte sich in das Gras. Tiefer, immer tiefer, durch die Grasdecke hindurch, in den Boden hinein“ (8 ff./65).

Die Erzählung ist aber auch kein Märchen. Obwohl sie von phantastisch-wunderbaren Begebenheiten und Zuständen aus freier Erfindung zu bestehen scheint, ist die zweite Bedingung, das Fehlen einer zeitlich-räumlichen Festlegung, nicht vorhanden: Mit St. Ottilien und Freiburg sind Ort und indirekt auch Zeit benannt.

Den Schlüssel für den Zugang gibt uns der Autor erst sehr spät (16/72): „Mit krampfhaftem Eifer sprach er sich vor, daß alles wohl geträumt sein müsse; aber die Risse an seiner Stirn waren echt. Dann muß es Dinge geben, die unglaublich sind. Die Bäume hatten nach ihm geschlagen, ein Geheul war um die Tote gewesen.“ Demnach haben wir es zu Beginn der Erzählung mit einem Traum zu tun. Genauer gesagt: Eingebettet in die Darstellung von Phänomenen körperlichen Unwohlseins des Herrn sind dessen Alpträume, gekennzeichnet mit --‹ (kursiv) ›--:

Alle diese Merkmale deuten darauf hin, daß Herr Michael Fischer unter einem seelischen Schock leidet. Dieser Schock wurde ausgelöst durch ein Ereignis, das vor der Erzählzeit liegt. (Hier gibt es eine Parallele zum Lustspiel Der zerbrochne Krug von Heinrich von Kleist, wo die Ursache für das Geschehen auf der Bühne eben in jene Zeit fällt, bevor der Bühnenvorhang aufgeht; aber während dort diese Ursache in aller Öffentlichkeit ans Licht (sic.) gezogen wird, bleibt sie hier verschlüsselt.) Das den Schock auslösende Ereignis bewirkte bei dem Protagonisten eine seelische Verwundung, ein Trauma. In poetischer Verfremdung erhält der Leser von einem Autor, der Arzt und Dichter zugleich war, einen klinischen Bericht über den Krankheits-und Heilungsverlauf eines unter einem Psychotrauma leidenden Mannes.

B. Das Modell der Trauerbewältigung

Die Psychotraumatologie als interdisziplinär ausgerichtete Lehre von psychischen Verletzungen und ihren vielfältigen negativen Folgen für die Betroffenen erforscht die Ursachen von Traumata, den Ablauf dieser Erkrankung sowie die Möglichkeiten der Heilung (Therapie). Ausgangspunkt dieser Lehre waren die Studien von Sigmund Freud über Hysterie bei seinen Patientinnen, aus denen er seine Traumatheorie entwickelte. Inzwischen hat sich zur Darstellung des Ablaufs der Erkrankung ein Vierphasenmodell der Trauerbewältigung durchgesetzt, das in dieser Erzählung seine Bestätigung findet. Je nach Konstitution und Umfeld der Betroffenen kann es Abweichungen und Überlappungen zwischen den einzelnen Phasen geben.

1. Schock- oder Betäubungs-Phase

Das traumatische Ereignis, meistens der Verlust einer geliebten Person durch Tod oder Trennung, wirkt als seelischer Schock auf alle Körperfunktionen. Vermutlich wird durch den Zustand höchster affektiver Erregung die Aktivität der Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse erheblich beeinträchtigt mit der Folge einer Cortex- und Hippocampus-Hemmung, so daß die Wahrnehmungseindrücke nicht mehr kategorial erfaßt und geordnet werden. Die von Außenstehenden und vom Betroffenen selbst erkennbaren Reaktionsmuster laufen auf drei Reaktionsebenen ab:

  1. motorische Ebene: Übererregung, Schreckhaftigkeit
  2. physiologische Ebene: Gleichgewichtsstörungen, Kurzatmigkeit, Leere, Kraftlosigkeit, verkrampfte Gesichtszüge
  3. subjektiv-psychologische Ebene: Unempfindlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen, Gefühle wie Realitätsverlust, Unwirklichkeitsvorstellung, Unfähigkeit zur Akzeptanz der neuen Situation, emotionale Distanz zu anderen Menschen

2. Protest-Phase / Phase aufbrechender Emotionen

  1. In dieser Phase dominieren die Intrusionen, der Einbruch von Trauma-Material in den Alltag, insbesondere die gefürchteten Flashbacks, wie in einem Film ablaufende Wiedererinnerungen an das Ereignis.
  2. Episodisch ist die betroffene Person aufgebracht, ängstlich, furchtsam, ruhelos und unter Schlaflosigkeit leidend.
  3. Mit dem Gefühl der tatsächlichen Anwesenheit sind die Gedanken stetig mit der verlorenen Person beschäftigt.
  4. Es beginnt eine Zeit der Suche nach der verlorenen Person.
  5. Zorn richtet sich auf jene, die vielleicht für den Verlust verantwortlich sein könnten.
  6. Selbstvorwürfe auch für geringe Taten bzw. Unterlassungen drängen sich auf.
  7. Eßstörungen führen zu Gewichtsverlust.
  8. Irgendwann überwiegt die Erkenntnis, daß man die verlorene Person nicht finden wird.

3. Phase der Desorganisation und Verzweiflung

  1. Es ist eine Phase der Verzweiflung und der Prüfung, wie und warum dieser Verlust geschah.
  2. Gefühle der Ohnmacht und Selbstmordgedanken entstehen.
  3. Mangelnde Selbstkontrolle kann zu Wutausbrüchen führen.
  4. Stetig ist die verlorene Person präsent. Sie wird bestenfalls zu einem Inneren Begleiter, mit dem man durch einen Inneren Monolog eine Beziehung entwickeln kann.

4. Anpassungs-Phase

Schließlich müssen alte Muster des Denkens, Fühlens und Handelns abgelegt werden. Der Betroffene hat einen neuen Lebensweg gefunden, mit neuen Potentialen der Befriedigung. Es kann bis zu vier Jahre, evtl. aber auch länger dauern, bis diese Phase abgeschlossen ist. Die Anpassung ist charakterisiert durch

  1. Kognitive Akzeptanz
    Der Betroffene hat eine subjektive Erklärung für das Geschehene gefunden, wie z. B.: Es war Gottes Wille.
  2. Emotionale Akzeptanz
    Die Erinnerungen sind neutralisiert. Die Bildung alternativer Verlustvermeidungsszenarien wird vermieden.
  3. Persönlichkeitsveränderungen
    Entwicklung eines neuen Selbstbildes, das die Erkenntnis der Abgeschlossenheit der Beziehung zur geliebten Person beinhaltet, woraufhin neue Bindungen eingegangen werden können.

C. Besonderheiten im Vergleich von Erzählung und Vierphasenmodell

  1. Die Erweiterung des Vierphasenmodells um die Ersatzhandlung: Wie viele Therapeuten berichten, neigen manche Patienten dazu, ihren Verlust durch eine Ersatzhandlung zu kompensieren („ […] Kompensation der Schuld. Er grub ein nahes Pflänzchen mit dem Taschenmesser aus“ (18/75).
  2. Die Erzählung ist mehrschichtig, da der auktoriale Erzähler Alfred Döblin die Zustände des Herrn Michael Fischer beschreibt, dieser sich jedoch auch selbst gelegentlich direkt mitteilt. (Depersonalisierung / Selbstverdoppelung als Selbstschutz)
  3. Die Zeit der Trauerbewältigung erstreckt sich in der Erzählung auf nur etwas mehr als ein Jahr. Dadurch sind die Krankheitsmerkmale dicht gedrängt dargestellt und die Phasenübergänge fließend. Zudem ist die erste Reaktion, die relativ kurze Zeit der Lähmung, nicht dargestellt und die Anpassungsphase am Ende stark verkürzt.

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III. Die Trauerbewältigung in der Erzählung als zeitabhängiges Mehrphasenmodell

Die Erzählung sprüht regelrecht von Symptomen der verschiedensten Art von Körperfehlfunktionen, so daß nicht nur jeder Satz, sondern manchmal auch jedes Wort eines Satzes jeweils einer anderen Krankheitsart zugeordnet werden könnte. Dennoch sind deutlich Einschnitte vorhanden, so daß, obwohl Alfred Döblin das Vierphasenmodell nicht kennen konnte, vier große Erzählbögen erkennbar sind, die im Wesentlichen mit den Phasen des Modells im Einklang stehen.

Phase 1 (ab Seite 7/63)

Mit dem Zählen der Schritte scheint die Realität für den Kaufmann Michael Fischer gegeben zu sein. Aber schon im gleichen Satz treten die für das erste Krankeitsstadium typischen unkontrollierten Körperbewegungen und -reaktionen auf. Dann wechseln sich Intrusionen (Alpträume) und körperliches Unwohlwein ab. Zwischen den einzelnen Traumphasen gehen die Füße weiter: die untere Ebene, die Realität, wird erinnert.

Seite 9/65: Wenn der Kopf ins Erdinnere saust, „daß keine Hände ihn mehr halten konnten“, ist der Verlust als endgültig anzusehen.

„Er staunte,verstört, mißtrauisch gegen sich selbst“ und „Mangel an Gehorsam“: mit dem Unwohlsein des Körpers sind auch Beeinträchtigungen seiner Wahrnehmungen, also aller Sinne gemeint.

Seite 10/66: Nun machen sich Angst und Furchtsamkeit, aber auch Wut und Aggression breit. Aber die Alpträume weichen noch nicht. Die Zeit der Appetitlosigkeit beginnt. Mit einem Lied versucht er sich Mut zu machen.

Phase 2 (ab Seite 12/69)

Nun machen sich neue Krankheitssymptome bemerkbar: Mit „Vielleicht lebte sie überhaupt noch“ beginnt die Suche nach der Verlorenen, und dann dominieren die Phänomene der Verzweiflung. Der Betroffene brüllt, sucht, wühlt in der Erde, Todesgedanken entstehen, Angst vor Strafe. Er nennt die Verlorene „Ellen“. (Man weiß nicht, wie Alfred Döblins Geliebte in Freiburg wirklich hieß.) Auf Seite 14/71 dann die Ausweglosigkeit seiner Situation: „er fand sich nicht mehr zurecht“. Und dann wieder ein Alptraum: „Entsetzen packt ihn“, der Weg verengt sich sonderbar, die ganze Natur scheint auf ihn einzuschlagen. Bemerkenswert ist der Hinweis auf das „Schlafzimmer“, Ort seiner Alpträume; und dann steht es auch da, „daß alles wohl geträumt sein müsse“.

Phase 3 (ab Seite 16/73)

Zu Beginn der dritten Phase findet er sich allmählich mit ihrer ständigen Anwesenheit ab: „er war müde geworden“ Er macht sie ideell zu seiner Hausgenossin, indem er ihr ein Näpfchen mit Essen hinstellt. Er sucht nun auch nach einer Begründung für die Katastrophe, nähert sich Gott, und meint schließlich: „es gebe Dinge, die nicht jeder begreift“. Er leidet seit längerem unter Appetitlosigkeit: „einen scheußlichen Geschmack fühlte er im Munde (Seite 10/67) und ist nunmehr abgemagert

Seite 17/74: Aber auch Protest gegen die mißliche Situation macht sich bemerkbar: er behandelt sie „erbittert, wegwerfend“, betrügt sie. Besonders unangenehm sind die Gedenktage; die Vermeidungsstrategie als therapeutische Maßnahme wird hier (noch) ergebnislos eingesetzt.

Phase 4 (ab Seite 18/75)

Mit der Ersatzhandlung, dem Ausgraben einer Butterblume, die er nach Hause trägt und in einen Blumentopf setzt, beginnt die letzte Phase. Er hat sich mit seiner Situation arrangiert, und in der gleichen Weise,wie er mit dem Näpfchen zuvor verfuhr, wird die Angelegenheit der Wirtschafterin übertragen, gewissermaßen auf diese abgewälzt. Es ist eine sinnlose Tat, ein Unternehmen, dem die Wirtschafterin bald kurzerhand ein Ende macht. Bemerkenswert ist der Satz: „Er ließ versunken die freundlichen, leicht verfinsterten Augen über das Unkraut gehen, die Schwestern, vielleicht Töchter Ellens“; möglicherweise ein Hinweis auf Alfred Döblins nicht sonderlich glückliches Verhältnis mit einer Sechzehnjährigen in Berlin.

Seite 19/76: „Der runde Herr Michael“ hat sein Unglück überwunden, die Zeit der Appetitlosigkeit ist vorbei. „Nun war er die ganze Butterblumensippschaft los“. Alle Körperfunktionen sind wieder intakt, er kann vor Glück lachen, und in seiner wiedergewonnenen Vollkomnmenheit als „der dicke, korrekt gekleidete Kaufmann Herr Michael Fischer“ ist er fähig und bereit, erneut Kontakt zur Blumenwelt aufzunehmen.

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IV. Die Ursache für das Ereignis

Die Ursache für den Verlust seiner großen Liebe und seines Kindes in Freiburg ist nahezu unverschlüsselt aus der Erzählung herauszulesen. Es sind nur wenige Zeilen auf der Seite 16/73, beginnend mit „Er büßte […]“ (Absatz C), ergänzend dazu der Name des Protagonisten (Absatz A), „Kanossa“ (Absatz B), sowie einige kurze Sätze auf der Seite 19/76, beginnend mit „Die Alte […]“ (Absatz D).

A. Michael Fischer

  1. Der Vorname Michael ist abgeleitet vom Erzengel gleichen Namens. Dieser Engel ist der Patron der Kaufleute, aber auch zusammen mit Gabriel Fürbitter und Schutzengel des Volkes Israel. Die sich auf diesen Erzengel beziehenden Midrasch-Texte finden sich nur im Alten Testament.
  2. Der Nachname Fischer hingegen ist eng mit dem Neuen Testament, dem für die christlichen Religionen maßgeblichen Teil der Bibel, verbunden. Die ersten Jünger von Jesus waren Fischer; er sprach zu ihnen: ›Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen‹ (Matthäus 4, 18).

Die Segmentierung und variierende Bezeichnung des Protagonisten in der Erzählung deutet darauf hin, daß das vor der Erzählzeit liegende Ereignis seinen Glauben an eine im Glauben einige Welt zerstört hat. Dieser religiöse Konflikt durchzieht die ganze Erzählung.

B. Kanossa (Canossa)

Das Zitat auf der Seite 11/68 geht auf eine Rede zurück, die Bismarck am 14. Mai 1872 vor dem Reichstag gehalten har; es lautet vollständig: ›Seien Sie außer Sorgen, nach Kanossa gehen wir nicht‹. Mit Kanossa war, wie jeder wußte, der Bittgang des deutschen Königs Heinrich IV. im Januar 1077 im Büßerkleid vor die Burg des Papstes gemeint; aber als Bismarck seine Rede hielt, befand er sich mitten im Kampf gegen die Strukturen der römisch-katholischen Kirche, dem sog. Kulturkampf. Bismarcks Ziel nach der Reichsgründung 1871 war die Erhaltung eines evangelischen Kaisertums; er glaubte, daß sich das Zentrum (eine 1870 aus katholischen Abgeordneten gebildete Partei, die nach der ersten Reichstagswahl als zweitstärkste Fraktion in den Reichstag eingezogen war) zur Speerspitze einer schwarzen Internationalen entwickeln werde, die von Rom aus dirigiert antinationalistisch agieren würde.
Eines der von Bismarck eingebrachten Gesetze, das nicht zurückgenommen werden mußte, war die 1875 eingeführte Zivilehe als allein gültige Ehe.

Als der finstere Dicke bzw. todblasse Herr in die Borke des Baumes, dessen Stamm er mit beiden Armen umschlang, hineindachte: „Nach Kanossa gehen wir nicht“, war dies der Entschluß, dem Katholizismus fern zu bleiben (11/68). Bis hierhin ist noch offen, welcher Konfession er angehört, und außerdem ist völlig unklar, warum er an dieser Stelle dieses Zitat zur Kenntnis bringt. Es ist der Erzähler, der hier bereits eine Spur zum Gewissenskonflikt legt.

Als Alfred Döblin die Erzählung schrieb, wäre eine Ehe zweier Partner mit unterschiedlicher Konfession nur als Zivilehe zwar möglich gewesen, aber für die Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft ist die kirchliche Trauung nach wie vor unerläßlich.

C. Der Gewissenskonflikt

Die zentrale Textstelle lautet (16/73): „Er büßte, büßte für seine geheimnisvolle Schuld. Er trieb Gottesdienst mit der Butterblume, und der ruhige Kaufmann behauptete jetzt, jeder Mensch habe seine eigene Religion; man müsse eine persönliche Stellung zu einem unaussprechlichen Gott einnehmen. Es gebe Dinge, die nicht jeder begreift.“

Diese Aussagen können bedeuten: Herr Michael Fischer (alias Alfred Döblin) büßt für eine Tat, die vor dem Gesetz rechtens war, aber sein Gewissen belastet. Es ist eine Gedankenschuld, hier eine Unterlassung. „Wie ein Gewissen sah die Blume in seine Handlungen”. Er betet zwar seine Blume, die Geliebte, an, aber bei nüchterner Überlegung ist der Verbleib in seiner Religionsgemeinschaft vorteilhafter als der Wechsel in eine andere. Jeder Mensch hat seine kraft Taufe und Erziehung eigene Religion, und für ihn ist der Wille seines Gottes mit dem unaussprechlichen Namen (JHWH als Tetragramm) maßgeblich; ein Kanossagang kommt für ihn nicht in Betracht. Für die unseligen religiösen Abgrenzungen gibt es aus seiner Sicht keine vernünftige Erklärung.

D. „Butterblumensippschaft“

Mit der „Butterblumensippschaft“ ist die katholische Familie der Freundin gemeint. Vermutlich war die Mutter, die „fluchende Alte”, gegen die Ehe ihrer Tochter mit dem „Herrn Michael Fischer”; Indizien hierfür sind die benachbarten Begriffe „Schwiegermutter” und „geschiedene Leute”.
(Es liegt die Annahme nahe, daß der Autor schon zu diesem frühen Zeitpunkt den Entschluß, zur Katholischen Kirche überzutreten, ins Auge gefaßt hat.)

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V. Das Kind

A. Paragraph 2403

In der alten dtv-Ausgabe steht: „Er grub ein nahes Pflänzchen aus, […] pflanzte es in einen goldprunkenden Porzellantopf, […] Auf den Boden des Topfes schrieb er mit Kohle: ›§ 2403 Absatz 5‹ (19/75). Dieser hier angegebene Paragraph ist nicht existent; im Kontext von Pflänzchen bzw. Kind wäre es denkbar, daß mit dieser Angabe der 24. März 1905 gemeint ist, vielleicht der Geburtstag des Kindes von „Ellen“ und Alfred Döblin. Die Bestätigung für die Geburt eines Kindes gab er selbst 1955 bei einem Gespräch mit Robert Minder, einem Professor an der Universität in Paris: ›In der letzten Studentenzeit bekam sie ein Kind‹. Er studierte von Ende Mai 1904 bis April 1905 in Freiburg und schloß dort seine Studienzeit mit seiner Doktorarbeit ab.

B. Paragraph 2043

1. Gesetzesauslegung

In der dtv-Neuausgabe hat nun der Paragraph die Nummer 2043. Diese Angabe ist kompatibel mit dem Hinweis zuvor auf den gesetzkundigen Kaufmann, der damit auf den hier einzig sinnvollen Paragraphen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) anspielt:

§ 2043 [Aufschub]

(1) Soweit die Erbteile wegen der zu erwartenden Geburt eines Miterben noch unbestimmt sind, ist die Auseinandersetzung bis zur Hebung der Unbestimmtheit ausgeschlossen.

(2) Das gleiche gilt, soweit die Erbteile deshalb noch unbestimmt sind, weil die Entscheidung über eine Ehelichkeitserklärung, über die Bestätigung einer Annahme an Kindes Statt oder über die Genehmigung einer vom Erblasser errichteten Stiftung noch aussteht.

(Damaliger Wortlaut. Absatz-Numerierung hinzugefügt.)

Der Kaufmann Michael Fischer (alias Alfred Döblin) beruft sich hier weniger auf irgendwelche Erbansprüche, sondern wohl eher auf den Aufschub von Ehelichkeitserklärung und Kindesannahme.

(Bei der neuen dtv-Textausgabe ist die Absatz-Nummer unverändert geblieben. Da es nicht 5, sondern nur 2 Absätze gibt, könnte auch hier, wie bei der Paragraphen-Nummer, ein Übertragungsfehler vorliegen. Weniger wahrscheinlich ist die Annahme, daß sich hier Alfred Döblin auf das Fünfte Buch, Erbrecht des BGB bezieht.)

2. Der Tod des Kindes ein Glück ?

Alfred Döblins Zusatz zu dem o. g. Bekenntnis Robert Minder gegenüber: ›es starb rasch, ich hatte Glück‹ ist vermutlich so zu verstehen, daß der stets finanziell klamme Dichter keine Alimente zahlen mußte, wie später für das Kind seiner jungen Berliner Geliebten.

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VI. Ebenen der Erzählung

Die Handlung der Erzählung läuft beim Lesen wie auf einer Bühne vor dem inneren Auge des Lesers ab. Aber wie bei einem Bühnenstück muß eine Erzählung eine Struktur haben, die den Leser anregt und zum Nachdenken veranlaßt, wenn sie Bestand haben will. In diesem Fall gibt es außer der im Vordergrund stehenden Handlung weitere Strukturebenen, die hier nur angedeutet werden können.

A. Die narrative Ebene

Die Erzähltheorie ist eine Wissenschaft für sich. Die Terminologie zur Beschreibung der Erzählsituationen wird zur Zeit bestimmt durch die Forschungsergebnisse von Gérard Genette, die es ermöglichen, jedes Detail einer Erzählung genau zu beschreiben. In seiner Diktion ausgedrückt handelt es sich bei dem untersuchten Text in Analogie zu Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung um einen heterodiegetisch-extradiegetischen Erzähler; die Erzählung erfolgt überwiegend in einer internen Fokalisierung auf Michael Fischer.

Die angeführten Begriffe haben folgende Bedeutung:

Die Mehrdimensionalität des Modells ist hilfreich, wenn beispielsweise in den Alptraumphasen der Erzählung bis zu vier narrative Ebenen wirksam sind:

4. Ebene: Der Alptraum selbst (im Präsens als Erlebte Rede): „Wieder rennt er hart gegen eine niedrige Tanne; die schlägt mit aufgehobenen Händen auf ihn nieder. Da bricht er sich mit Gewalt Bahn, während ihm das Blut stromweise über das Gesicht fließt“ (15/71).

3. Ebene: Die Figur (2. Ebene) hat einen Traum mit einem Protagonisten, der körperlich Schaden genommen hat: „Mit krampfhaftem Eifer sprach er sich vor, daß alles wohl geträumt sein müsse; aber die Risse an seiner Stirn waren echt“ (16/72).

2. Ebene: Der Autor Alfred Döblin versetzt sich in seine Figur: „Als er rechnete, bestand aber am nächsten Vormittag unerwartet etwas darauf, daß er der Butterblume zehn Mark gutschrieb“ (16/73).

1. Ebene: Der Autor Alfred Döblin berichtet über seine Figur: „Dann schikanierte er die Lehrlinge mit finsterer Miene, vernachlässigte seine Arbeit und ging auf und ab“ (16/72).


B. Die Personifikation von Natur

1. Text

Pflanzenwelt und Zivilisation sind in der Erzählung eng miteinander verzahnt. Dies geschieht dadurch, daß der Butterblume, der „Butterblumensippschaft” und auch episodisch anderen natürlichen Gegebenheiten wie Tannen und Bergen menschliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Im Vordergrund steht „Ellen”: die Blüte der Butterblume steht hier (als rhetorische Figur der Synekdoche) für die ganze Pflanze, die zugrunde geht.

Eine versteckte Ungenauigkeit (Nachbarschaftstropus) könnte im Begriff der Butterblume stecken, da diese lexikalisch in die Gruppe der Ranunculaceae, der Hahnenfußgewächse wie z. B. Scharfer Hahnenfuß, Sumpf-Dotterblume und Trollblume, eingeordnet ist. Der Beschreibung in der Erzählung nach müßte es sich jedoch um den Gemeinen Löwenzahn, auch Kuhblume, Kettenblume, Pusteblume, Eierblesch oder Bettschisser genannt, handeln, welcher der Gruppe der Cichoriaceae angehört. Diese unterschiedlichen Zuordnungen erklären sich daraus, daß Butterblume kein wissenschaftlicher Begriff, sondern ein Volksname ist; so ist diese Bezeichnung regional betrachtet gebräuchlich in

2. Titel

Der Titel bildet mit dem zugehörigen Text eine Einheit, das Werk des Autors. Als Paratext (ein wie Vor- und Nachwort, Motto etc. um den Haupttext in Erscheinung tretender subsidiärer Text) hat er eine Bezeichnungs- oder Identifizierungs-Funktion, eine deskriptive und eine Verführungs-Funktion. Alle drei Funktionen des Titels dieser Erzählung sind außerordentlich einprägsam, werden doch zwei ausdrucksstarke Begriffe (Mord – Butterblume) miteinander verbunden, die nicht miteinander vereinbar sind: ein Oxymoron. Der Begriff Mord findet nur dann Anwendung, wenn gemäß § 211 Strafgesetzbuch ein Mensch durch einen anderen getötet worden ist, nicht aber eine Pflanze wie hier eine Butterblume. Einerseits wird hier der Blume der Status eines Menschen zugeschrieben, andererseits wird die Vernichtung einer Pflanze mit einem strafrechtlichen Tatbestand gegen das (menschliche) Leben gleichgesetzt.

Vermutlich haben Alfred Döblin die Erinnerungen an bluttriefende Jahrmarktsplakate im Stettin seiner Jugendzeit und an spielende Kinder, die auf einer Wiese in Freiburg mit Stecken Blumen die Köpfe abschlugen, die Eingebung zu dieser Erzählung gegeben.

C. Das Ewigweibliche

Mehr oder weniger latent durchzieht allegorisch der menschliche Geschlechtstrieb, die geschlechtliche Liebe, die Erzählung. Mit seinem „Stöckchen” sucht der Herr bevorzugt jene Blumen heim, deren röhrenförmige Stengel nach dem Abschlagen des Blütenkopfes einen weißlichen Saft absondern. Der Kopf einer dieser Butterblumen saust sogar bis in das Erdinnere: charakteristisch für die chthonische Sphäre, in der sich der Mensch als Teil der Natur befindet.

Dieser Kontakt des Mannes mit der Pflanzenwelt ist jedoch ein Abirren vom rechten Wege, denn er befindet sich auf einem Weg, der auf eine Anhöhe führt. Sein Ziel ist St. Ottilien, ein Kloster im Elsaß, das wie viele andere heilige Stätten auf einem Berg errichtet worden ist. Er scheint spazierenzugehen, aber die Beharrlichkeit, mit der er in der Rahmenhandlung, also jeweils zu Beginn und am Ende der Erzählung, seinem Ziel zustrebt, ist bemerkenswert. Das Ziel, ein Ort der Frömmigkeit, korrespondiert mit jener zentralen Textstelle, an der gewissermaßen die (zweite) Gretchenfrage gestellt wird: ›Glaubst du an Gott?‹ Im Faust hat Goethe unter anderem dieses Thema abgehandelt: ›Gefühl ist alles‹ schreibt er; denn das Göttliche ist unsagbar und unfaßbar.

In seinem Essay Alfred Döblin, der weltfremde Eiferer - Zwischen allen Stühlen schreibt Marcel Reich-Ranicki: ›Wenn er schon einmal Erfolg hatte - mit dem Roman Berlin Alexanderplatz (1929) -, bezeichnete er die Rezeption als pures Mißverständnis: Man habe als Großstadtschilderung und psychologische Studie gelesen, was ein metaphysischer, ein religiöser Roman sei.‹ Diese Aussage Alfred Döblins trifft auch auf diese Erzählung zu. Aus christlicher Sicht verkörpert sich Gottesliebe in Menschenliebe, diese wiederum in Nächstenliebe, aus der wiederum die Geschlechterliebe abgeleitet ist. Sinnbild dieser Liebe ist aus männlicher Sicht die Frau. Im Faust ist es Gretchen mit ihrer himmelziehenden, erlösenden Wesenskraft; hier könnte die Heilige Odilia gemeint sein. Diese war von ihrer Geburt an blind und wurde durch die Taufe sehend.

D. Jahrhundertwende

1. Deutsches Kaiserreich

Ein schwarzgekleideter Herr unbestimmten Alters mit weißen Manschetten, schwarzem Stöckchen, steifem Hut und Goldkette auf der schwarzen Weste zählt beim Spazierengehen seine Schritte. In seiner Westentasche steckt seine Taschenuhr: sie markiert den Beginn einer neuen Epoche, das mit dem Aufstieg der Naturwissenschaften verbundene Zeitalter der Beschleunigung, der Massen und der Ideologien. Diese zunächst die Großstädte erfassende Entwicklung kennzeichnete Georg Simmel mit den Worten: ›Durch das rechnerische Wesen des Geldes ist in das Verhältnis der Lebenselemente eine Präzision […] gekommen, wie sie äußerlich durch die allgemeine Verbreitung der Taschenuhren bewirkt wird.‹

Im Gegensatz zu den Großstädten, wo sich infolge des massiven Menschenzuzugs neue Ordnungsgefüge bilden, bleibt das Weltbild der Provinz mit ihren Kleinstädten relativ konstant. Hier hat jeder seinen klar ihm zugewiesenen Platz in den Hierarchien; jeder hat zwar wenig Freiheiten, aber große Sicherheit. Zur Sicherung dieser Ordnung gelten strenge Regeln, ein Tugendkatalog, dessen Geltungsbereich von der Erde bis in den Himmel reicht. Die Gottergebenheit ist die passive, überirdisch orientierte Seite der Moral, die Rechtschaffenheit die irdische und aktivere Tugendhaltung.

Diese strenge Tradition gab die Normalität vor, der jeweils herrschenden Religionsgemeinschaft anzugehören. Durch den Normalitätsdruck gab es keinen geschützten häuslichen Bereich, und Außenseiter, wie beispielsweise die Juden, waren isoliert und ausgeschlossen. Diese fast völlige Trennung von evangelischer und katholischer Welt im deutschen Kaiserreich ist auch durch Statistiken nachweisbar. Im Jahre 1905 gab es 485 906 Eheschließungen; von diesen entfielen 90 % auf konfessionell einheitliche Ehen ( Mann und Frau evangelisch 60 %, katholisch 30 % ); in 4 % der Fälle war der Mann evangelisch und die Frau katholisch, und im umgekehrten Sinne waren es 5 %.

2. Freiburg

Freiburg gehörte bis 1805 zu Österreich und war bis dahin eine katholische Stadt. Bis 1905 erhöhte sich die Einwohnerzahl, auch durch den Zuzug von Protestanten, von ca. 9 000 auf ca. 74 100. Die Ansiedlung von Juden wurde lange Zeit von der Bürgerschaft nicht geduldet; erst 1863 wurde wieder (nach ihrer Vertreibung 1424) eine jüdische Gemeinde gegründet. Um 1925 war mit 1 399 Personen die höchste Anzahl jüdischer Einwohner erreicht; das war, bei insgesamt ca. 90 000 Einwohnern, ein Bevölkerungsanteil der Juden von 1,5 %. Wie hoch der Anteil der Juden an der Studentenschaft in Freiburg zu jenen Zeiten war, ist ungewiß. Für jüdische Studentinnen und Studenten war der Heiratsmarkt sehr klein.

3. Antisemitismus

In der zentralen Textstelle zum Gewissenskonflikt wird das Büßen hervorgehoben: „Er büßte, büßte für seine geheimnisvolle Schuld.” Diese geheimnisvolle Schuld könnte im Zusammenhang stehen mit jenen falschen Beschuldigungen, mit denen die Juden jahrhundertelang sozial ausgegrenzt und verfolgt worden sind: Kollektivschuld am Tod Jesu, Hostienschändung, Verantwortung für Hungersnot und Pest. Im deutschen Kaiserreich von 1871 waren sie grundsätzlich allen anderen Bürgern gleichgestellt. Dennoch empfanden sie selbst sich nicht als gleichgestellt. Es war nicht so sehr äußerer Druck, der sie psychisch belastete als vielmehr der Verlust des Glaubens und ein kollektiver Minderwertigkeitskomplex. Allerdings hatte die überdurchschnittliche Strebsamkeit der Juden zur Folge, daß die jüdische Hast zum stehenden Begriff wurde, und bei vielen bestand bald der Reiz des Antisemitismus in der Illusion, daß das durch Industrialisierung, Technisierung und Bevölkerungswachstum enstandene Hetzen und Jagen kein Strukturproblem sei, sondern durch die Ausschaltung jener ganz begrenzten Personengruppe abgeschafft werden könne.

E. Die Figur

1. Farbsymbolik

Die Kleidung des Herrn in jener Zeit war sachlich und einheitlich. Es gab von Herrenschneidern festgelegte Kleidungsregeln, um dem Herrn die Zusammenstellung seiner Kleidung zu erleichtern. Es dominierten Grau- bis Schwarztöne; farbige Auffälligkeit war verpönt.

Hier in der Erzählung jedoch ist das Schwarz der Kleidung des Protagonisten Ausdruck der Trauer. Er trägt seine schwarze Kleidung so lange, wie die Attribute „ernst”, „schlaff”, „finster” ihn begleiten. Selbst die Traumfigur des Protagonisten ist schwarzgekleidet; nachdem diese ihren Anzug zerfetzt hatte, zieht sie sich erneut einen schwarzen Anzug an. Dann jedoch, nach der Wendung („Wie hatte sich alles gewendet!”), ist nur noch sein Stöckchen schwarz.

2. Dicke

Der Kult der Gemütlichkeit, der im Biedermeier seinen Höhepunkt hatte, enthielt eine echte Erfahrung des Wohlseins. Es war eine alkoholische Kultur, die durch die Gesundheits- und Jugendbewegung allmählich in Verruf geriet. Hier in der Erzählung steht die Dicke des Herrn noch für Gesundheit: Zu Beginn ist er dick, magert dann ab, und am Ende ist er wieder der „dicke” Herr.

F. Dichtung als künstlerisches Heilverfahren

„Er brüllte: ›Gebt sie heraus. Macht mich nicht unglücklich, ihr Hunde. Ich bin Samariter. Versteht ihr kein Deutsch?‹“ Wer sind die Hunde, wer ist unglücklich? Alfred Döblin war ein Vielschreiber. Vielleicht war ihm Dichtung eine wirksame Annäherung an die wirkliche Heilung. Seine Entscheidung für das Studium der Psychologie war vermutlich getragen von seinen Kindheitserfahrungen, aber der Arztberuf allein konnte seine innere Spannung nicht lösen; dies umso weniger,als ihn später die äußeren Umstände seinen Beruf nicht ausüben ließen. Dieses berufliche Doppelleben teilte er mit vielen anderen Schriftstellern wie Franz Kafka und Gottfried Benn.

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VII. Schlußworte

A. Auszüge aus Doktor Döblins Selbstbiographie

›Dieser ziemlich kleine bewegliche Mann von deutlich jüdischem Gesichtsschnitt mit langem Hinterkopf, die grauen Augen hinter einem sehr scharfen goldenen Kneifer, der Unterkiefer auffällig zurückweichend, beim Lächeln die vorstehenden Oberzähne entblößend, ein schmales langes, meist mageres, farbloses Gesicht, scharflinig, auf einem schmächtigen, unruhigen Körper, – dieser Mensch hat […] in Freiburg seine beiden letzten Studiensemester abgemacht in seinem sechsundzwanzigsten Jahr.‹

›Ich nähere mich jetzt den Vierzig. Es sind nicht leichte Erschütterungen und Erregungen, […] die mich treiben, […] diese Lebensbeschreibung […] anzufangen; […] ich kann nicht schlafen, mein Appetit ist wie erloschen; […] rastlose Unruhe […] treibt […] mich über Straßen und Plätze, […] wieder auf mein Zimmer, hinlegen, hinschweigen; […] ich möchte auch meine Ruhe haben, die Sorge los sein, die sich mir immer nähert. Schöne Mädchen, […] das geht mich nichts an, […] ich bin zu sehr gebrannt und geglüht worden. […] Mir wurden solche entsetzlichen Abende und Halbnächte in Freiburg gut in die Erinnerung geätzt, wo ich tagelang, tagelang keine Silbe sprach, öfter vor mich hin summte und sang, bloß um wieder meine Stimme zu hören. […] Bitterkeit: das ist der richtige Ausdruck; so empfinde ich oft genug jetzt noch Wälder. Wenn ich nicht schwermütig verliebt in sie bin, […] ergeben mich auf eine Wurzel setze, zu den Blättern aufblicke und mich in einem Grabe dünke, - in einem schönen weltfremden Raum. […] Gibt es einen Vater, zu dem man aufblicken kann? […] Ein Gott – es ist ein schöner Gedanke; […] das Mißtrauen gegen die Menschen hat uns diesen Gott eingegeben. […] Es hilft mir nicht, daß ich schreibe und schreibe. Es beruhigt mich nicht.‹

›Der alte Kaiser starb; das wurde ihm in der Schule […] gesagt, wo er Sextaner war und schlecht, sehr schlecht Latein und Rechnen kapierte. […] einmal lief er auf den Jahrmarkt; da war an einer Bude eine Moritat angemalt, grell bemalte Leinwand, entsetzliche Totschlagsszene; […] lange Jahre später noch verließ ihn nicht der schreckliche Eindruck.[…] Der Junge ging mit seiner Mutter später einmal durch die Linden, er guckt nach allen Seiten, ob man ihm nicht ansieht, er schämt sich des stadtbekannten Eklats, daß sein Vater mit einer Schneidermamsell nach Amerika durchgebrannt ist. […] Einmal kam er auch blutüberströmt nach Hause: man schoß gemeinsam mit Bogen aus Korsettstangen, ein Pfeil traf ihn.‹

B. Jüdische Literatur gestern und heute

1. Emmendingen

Am 26. Juni 1957 starb Alfred Döblin in Emmendingen, 16 km nördlich von Freiburg im Breisgau gelegen. Sein Todestag jährt sich in 2007 zum 50. Mal.

2. Amerika

›If she could marry a Jew, she could surely be a friendly neighbor to a Protestant – sure as hell could if her husband could. The Protestants are just another denomination.‹
[American Pastoral by Philip Roth]

(Wenn sie einen Juden heiraten konnte, konnte sie doch wohl mit einem Protestanten gute Nachbarschaft pflegen - und ob sie das konnte, wenn ihr Mann es konnte,) [Übers. Werner Schmitz]

Ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust in Europa sind die USA zu einem Zentrum jüdischer Weltliteratur geworden.

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VIII. Literaturverzeichnis

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