Kommentar zu William Shakespeares Tragödie „Hamlet“

Übersicht

A. Prämissen

1. Interpretationsmethoden

Shakespeares Drama „Hamlet” handelt von Mord, Rache, Liebe und anderen menschlichen Emotionen. Trotz der spannenden und abwechslungsreichen Handlung entsteht bei vielen Zuschauern und Lesern der Eindruck, daß hinter dem Dargestellten sich ein tieferer Sinn verbirgt; sie wollen sich mit einem naiven Verstehen nicht zufriedengeben. Dieser Sinnsuche steht entgegen, daß zum einen das Drama einer Kultur angehört, die vor vierhundert Jahren bestand und längst vergangen ist, und zum andern, daß nicht bekannt ist, wonach zu suchen ist. Um diese Probleme zu beheben, sind viele Interpretationsmethoden entwickelt worden, die im Zusammenwirken ein zufriedenstellendes Resultat erbracht haben. Als wichtige literatur- und kulturwissenschaftliche Methoden gelten: Hermeneutik, Sozial-, Geistes-, Kultur-, Mentalitätsgeschichte, Quellenforschung, Strukturalismus, Dekonstruktivismus, Intertextualität, Kultursemiologie, New Historicism, Diskursanalyse und Feministische Wissenschaften.
(Die Hinweise auf den Dramentext beziehen sich auf The Arden Shakespeare: Akt,Szene,Zeile)

2. Der Dramenstoff

Das Drama ist politisch, historisch und geographisch in Dänemark angesiedelt. Aus der dänischen Sagenwelt stammt denn auch der Stoff, von Saxo Grammaticus (1150-1220) in seiner Historia Danica überliefert und in das 5. Jahrhundert terminiert. Shakespeare hat wesentliche Bestandteile dieser Amleth-Geschichte übernommen (Brudermord zwecks eigener Thronfolge und Heirat der Witwe, die bewußte Narrheit von deren Sohn, Tod eines Horchers bei der Königin durch Erstechen, die England- Reise); andere Teile wurden nicht übernommen (die Verbrennung des trunken gemachten Königs samt Gefolge, Amleths Thronbesteigung und Hochzeit); anderes wurde abgeändert (Hamlet fährt nicht bis nach England, eine Ziehschwester wird zur Ministertochter). Aus Thomas Kyds Drama The Spanish Tragedy stammen die einleitende Racheverpflichtung des aus Wittenberg heimkehrenden Hamlet durch den Geist des Vaters sowie die Erfindung des Laertes (benannt nach dem Vater des Odysseus) als des Gegenspielers von Hamlet.(Frenzel)

3. Shakespeare in London um 1600

Als gläubiger Katholik lebte Shakespeare, der beruflich an die englische Hauptstadt (mit etwa 250.000 Einwohnern die wohl größte Stadt Europas) gebunden war, in der Diaspora und fern von seiner Familie in Stratford-upon-Avon. Um den Repressalien der die Stadt beherrschenden Puritaner auszuweichen wohnte er meistens irgendwo zur Untermiete oder bei einem seiner adligen Gönner, ohne deren Protektion die Theater, die ohnehin der Puritaner wegen außerhalb der Stadt lagen, nicht existieren konnten. England war seit vier Jahrzehnten, seit der Thronbesteigung Elisabeths I. 1558, endgültig protestantisch. Der gesamte Besitz der katholischen Kirche einschließlich der Klöster war enteignet und den katholischen Priestern das Ausüben ihres Amtes verboten worden. Als der Papst 1570 die Exkommunikation der Königin verfügte, begann für die englischen Katholiken die Zeit der Verfolgung und Blutopfer, der Flucht junger Engländer in Ausbildungsstätten auf dem Kontinent und ab 1580 der Aufbau einer geheimen Missionskirche in England.(Lutz) „Brückenkopf” war die am Ufer der Themse gelegene ehemalige Klosteranlage Blackfriars, Sitz des französischen Botschafters; sie ermöglichte die unbemerkte Ein- und Ausreise von katholischen Geistlichen und somit die Sicherung der Seelsorge und des Lesens von Messen. Anlaufstelle auf dem Kontinent war in der Regel das Englische Kolleg in St. Omer. Kurz vor seinem Tod hat sich Shakespeare am Kauf eines Gebäudes auf dem Klostergelände beteiligt, um diesen Transitweg abzusichern.(Hammerschmidt-Hummel)

4. Strukturen des Dramas

a) Operative Strukturen
Das Drama ist ein religionspolitisches Manifest zugunsten der römisch-katholischen Kirche. Drei miteinander verflochtene Themenkomplexe bilden ein in sich geschlossenes System, das auf die Situation der Katholiken in England zugeschnitten ist. Diese Themenkomplexe sind:
  1. „Mord im Dom” (oder: Der katholische Kult als Gedächtnisspur)
  2. Vom Disput zum Glaubenskampf
  3. Tragödie des Untergangs
b) Personale Strukturen
Den drei Themenkomplexen sind alle handelnden Personen strikt untergeordnet. Deshalb sind ihre Handlungsweisen situationsgebunden; ihr Charakter scheint manchmal gebrochen. Auf diese Brechungen wird jedoch hingewiesen. Bei Hamlet z. B. im 1. Akt, 5. Szene: „As I perchance hereafter shall think meet to put an antic disposition on”. Das Wort „antic” steht für seltsam, aber auch für schicksalhaft im Sinne griechischer Tragödien. Der König z. B. fühlt sich „like a man to double business bound” (3,3,41), also mit zwei divergierenden Pflichten belastet.

5. Zahlensymbolik

Einige Zahlen besitzen von alters her einen symbolischen Gehalt. Meistens sollen sie etwas ausdrücken, was explizit nicht ausgesprochen werden soll oder kann. Im Drama ist die Zwei am auffälligsten, verkörpert durch das unzertrennliche Paar Rosenkrantz und Guildenstern. Sie verweisen vermutlich auf die beiden Bäume im Garten Eden: den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse, von Leben und Tod. Die Drei verweist auf die göttliche Trinität. Als Schicksalszahl gilt die 40. Sie ist mit dem Gedanken einer Wiedergutmachung, mit Gebet und Sühne verbunden (Lurker) und gliedert weite Bereiche des Kirchenjahres. Die 10.000 schließlich galt damals als Grenze der Vorstellungskraft.

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B. Die Themen-Trias

I. „Mord im Dom”

In Anlehnung an das geistliche Spiel Murder in the Cathedral von Thomas Stearns Eliot sind hier die im Drama erkennbaren Dogmen und Kulte der römisch-katholischen Kirche zusammengefaßt.

1. Dogmen

a) Der 22. Artikel (Article XXII. Of Purgatory)
Das im Auftrag der Königin von der Church of England herausgegebene Common Prayer Book regelt das kirchliche Leben, sein später hinzugefügter Anhang , die Thirty-Nine-Articles of Religion, .enthält das protestantische Glaubensbekenntnis. Der 22. Artikel dieses Anhangs wendet sich ausdrücklich gegen römisch-katholische Glaubensvorstellungen, da sie nicht mit der Heiligen Schrift im Einklang stehen: „The Romish Doctrine concerning Purgatory, Pardons, Worshipping and Adoration, as well of Images as of Relics, and also Invocation of Saints, is a fond thing, vainly invented, and grounded upon no warranty of Scripture, but rather repugnant to the Word of God.”
b) Dogmen im Drama
Einzelne dieser von der Anglikanischen Kirche abgelehnten katholischen Glaubensgrundsätze treten so markant hervor, daß angenommen werden kann, Shakespeare habe sich bewußt gegen den Artikel 22 gewendet.
(1) Fegefeuer:
Die Handlung beginnt mit Fackelschein in finsterer Nacht; es ist die Wachablösung um Mitternacht vor dem Schloß. Dann tritt (wieder) ein Geist auf: es ist der dem Fegefeuer entstiegene verstorbene König, Hamlets Vater. Es ist ein unglaublicher, ein überirdischer Vorgang, der bewirkt, daß aus dem weltlichen Theaterrund ein sakraler Raum, eine Ersatz-Kirche entsteht.
(2) Ablaß:
Hierzu gibt es nur indirekt einen Hinweis, indem Hamlet das Andenken an einen großen Mann daran bemißt, ob er Kirchen baut oder nicht.(3,2,129 f.)
3) Anbetung und Verehrung von Bildern:
Es ist Ophelia, die gegen dieses Verbot verstößt und deswegen von Hamlet gerügt wird.(3,1,144 f.)
(4) Anbetung und Verehrung von Reliquien:
Auf dem Friedhof (5,1 ff.) beschäftigt Hamlet sich ausgiebig mit (vermutlich sauberen) Schädeln, die vom Totengräber ausgegraben und mit ihrem Namen benannt werden, diskutiert mit diesem über die Dauer der Verwesung von Leichen und sinniert über das Ende von Herrschern großer Reiche: ein Reliquienkult auf offener Bühne!
(5) Anrufung von Heiligen:
Im Drama wird an zwei bedeutende Männer erinnert, die im Kampf für die Rechte der katholischen Kirche ermordet worden sind.
Thomas Morus:
Begründer des utopischen Sozialismus und Mitverfasser der „Verteidigung der sieben Sakramente” (1522); 1529 Lordkanzler; Heinrich VIII. ließ ihn, da er am Papsttum festhielt, als Hochverräter verurteilen und enthaupten (1535); er wurde 1886 selig- und 1935 heiliggesprochen. Hier im Drama ist es, entsprechend der Vokalassoziation, Polonius, der hinter einem Wandteppich stehend von Hamlet erstochen wird.(3,4,23 f.)
Thomas Becket:
Bis 1162 Kanzler unter Heinrich II., dann Erzbischof von Canterbury; wegen seines Widerstandes gegen die Ausweitung königlicher Rechte wurde er 1170 in seiner Kathedrale von vier Rittern ermordet. 1173 wurde er heiliggesprochen. 1538 ließ Heinrich VIII. Schrein und Reliquien zerstören. Im Drama sagt Laertes: „To cut his (=Hamlets) throat i'th' church”; der König antwortet: „No place indeed should murder sanctuarize.”(4,7,125 f.)

2. Sakramente

Diese Gnade vermittelnden religiösen Zeichenhandlungen sind komplett, wenn auch unterschiedlich stark ausgeprägt, nachweisbar.
(1) Taufe:
Hamlet befindet sich nach Abschluß seines Seereise-Abenteuers nackt am Ufer seines Heimatlandes.(4,7,42) Vermutlich wurde er vor der Küste von den Piraten ins Wasser geworfen.
(2) Firmung:
Mit etwas Phantasie kann man das Handgemenge zwischen Hamlet und Laertes an Ophelias Grab als Handauflegen deuten.(5,1,253) Hingegen ist Hamlets Ausruf „I lov'd Ophelia” (5,1,264) unter Bezugnahme auf das 8. Sakrament als Glaubensbekenntnis anzusehen.
(3) Eucharistie, (4) Buße, (5) Krankensalbung:
Auf diese Sakramente weist früh der Geist hin, wenn er klagt: „Cut off even in the blossom of my sin, unhousel'd, disappointed, inanel'd, no reck'ning made”.(1,5,76 f.)
(6) Priester-Weihe:
An Ophelias Grab erklärt der Priester: „we have warranty”, d.h. Vollmacht, Berechtigung. (5,1,220)
(7) Ehe:
Der Streit zwischen Papst und König um das Sakrament der Ehe war entscheidend für die Loslösung Englands vom Papsttum. Mit Dispens von Papst Julius II. hatte Heinrich die Witwe seines Bruders Arthur geheiratet. Als nun bis auf die Mary alle Kinder früh verstorben waren (was als Gottesurteil angesehen wurde), wollte Heinrich zur Sicherung seiner Dynastie von Papst Clemens VII. seine Ehe annulieren lassen und Anne Boleyn heiraten. Der Papst zögerte so lange, daß Heinrich handeln mußte, als ein Kind unterwegs war: er heiratete Anne und machte sie zur Königin. Folglich wurde der König vom Papst exkommuniziert, woraufhin dieser den Papst zum Bischof von Rom degradierte und sich selbst zum Kirchenoberhaupt von England machte. Nur vor diesem geschichtlichen Hintergrund ist es zu erklären, warum Shakespeare dem Hamlet die ungewöhnlich scharfen Haßtiraden gegen seine Mutter wegen ihrer Ehe mit dem Bruder seines Vaters in den Mund gelegt hat.
(8) Kirche:
Auch die Kirche selbst versteht sich als Sakrament, im Namen des Glaubens an den dreieinen Gott handelnd. Ophelia ist im Drama die Inkarnation der römisch-ketholischen Kirche. Ihr Schicksal ist Mittel- und Höhepunkt der Handlung. Von Hamlet als Nymphe bezeichnet ist ihr Weg in den Tod des Ertrinkens vorgezeichnet.(3,1,89) Sie ist ein schönes junges Mädchen, keusch, fromm und zurückhaltend, dessen Zukunft von Hamlet in Manier der Obrigkeit brutal zerstört wird. Hamlets Aufforderung: „Get thee to a nunnery” (3,1,121) erinnert an die vorreformatorische Zeit, denn Heinrich VIII. ließ von 1536 bis 1539 alle Klöster auflösen. Wir verfolgen ihren geistigen Verfall, ihr Singen von vergangener Liebe und vom Tod (auch der Totengräber wird etwas später singen), sehen sie Blumen verteilen, und dann erfahren wir durch die Königin von ihrem Tod. Und dann geschieht das Wundersame: während ihr Vater, immerhin des Königs Minister, heimlich bestattet wurde, bekommt sie ein Staatsbegräbnis; selbst ein Priester ist wie selbstverständlich dabei und macht auf Symbole wie „heilige Erde” und „Requiem” aufmerksam. Am Grab bekennt jeder seine Liebe zu ihr und damit zum katholischen Glauben, am kräftigsten Hamlet („wie 40 000 Brüder”). Der König schließt die Beerdigung ab mit den Worten: „This grave shall have a living monument.”(5,1,292) Den mittelalterlichen Bräuchen entsprechend ist diese Anordnung so aufzufassen, daß hier nun ein Wallfahrtsort entstanden und mit der Seligsprechung zu rechnen sei.

3. Liturgie

Das Drama enthält (natürlich) auch viele Elemente der Liturgie, wie z. B. das Gebet des Königs, der auch Funktionen eines Bischofs wahrnimmt, mit Kniefall, und die Eucharistie am Handlungsende. Von großer Wichtigkeit ist die „Bibellesung”, als solche nicht ohne weiteres erkennbar, in drei Teilen.
  1. Horatio verliest Hamlets Brief mit der Nachricht über seine Gefangennahme durch Piraten. (4,6,12 f.)
  2. Der König verliest Hamlets Brief mit der Nachricht, daß er sich nackt am Ufer des Königreiches befinde.(4,7,42 f.) Wir erfahren hier von einem Wunder: heil und ohne irgendwelche sonstige Auflagen fahren die Piraten den Königssohn nach Hause. Der König aber hakt nach: „naked, alone ?” Das Wunder ist der Bibel entnommen, der Geschichte vom Propheten Jona, der, von seinen Mitreisenden auf dem Schiff ins Meer geworfen, von einem großen Fisch verschlungen wurde, aber nach drei Tagen und drei Nächten des Gebets Gottes Hilfe erhielt und vom Fisch ans Land gespien wurde.
  3. Der wichtigste Teil der Lesung, den damaligen gewohnheitsmäßigen Kirchgängern wohlbekannt, steht nur in der Bibel: Jona verkündet in Ninive Gottes Botschaft, daß die Stadt wegen ihrer Bosheit nach vierzig Tagen untergehen wird. Diese Botschaft bewirkt, daß der König von seinem Thron aufstand, seinen Purpur ablegte, Bußmaßnahmen ausrufen ließ und verlangte, ein jeglicher bekehre sich von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände.
Solch ein Vorgang war doch der Wunsch aller englischen Katholiken!

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II. Vom Disput zum Glaubenskampf

a) Die Rolle der Universitäten

Im Jahre 1167 wurden die englischen Studenten aus Paris vertrieben. Sie gingen an die Klosterschulen von Oxford und Cambridge, was diese in die Lage versetzte, in den Rang von Universitäten aufzusteigen. Rund vierhundert Jahre später sind die Klöster verschwunden, und katholische Studenten können nur im Ausland, vorzugsweise in Frankreich studieren, u. a. Folge der Reformation, die von Martin Luther, Professor an der Universität Wittenberg, ausgegangen ist. Seine 95 Thesen über die Kraft des Ablasses, in Latein abgefaßt und zum Zweck des Disputs an den christlichen Adel und an andere Universitäten verschickt, hob die Stufung in „geistlich” und „weltlich” auf und erschütterte damit die hierarchische Ordnung des Mittelalters.(Zahrnt) Im Drama treffen die Exponenten der beiden miteinander konkurrierenden Konfessionen, der Student Laertes (Frankreich) und der Student Hamlet (Wittenberg) dreimal mit sich steigernder Gewalttätigkeit aufeinander: bei der allgemeinen Rollenverteilung in der zweiten Szene (1,2,51+113), beim Handgemenge an Ophelias Grab (5,1,253 f.), und bei dem Duell am Schluß (5,2,256 f.). Das Duell geht unentschieden aus; bevor sie sterben, reichen sich beide versöhnlich die Hand. Nicht die Waffen, sondern Gift bringt den Tod; hierauf mag schon der Name des Königs hinweisen: Der römische Kaiser Claudius wurde 54 n. Chr. von seiner Frau Agrippina vergiftet, damit deren Sohn Nero dessen Nachfolger würde. (Einige Handlungen Hamlets haben Ähnlichkeit mit Neros Taten, worauf dieser selbst hinweist.(3,2,384 f.)

b) Der Abendmahlskelch

Shakespeares Anliegen in diesem Themenkomplex ist wohl die Aufforderung an die beiden christlichen Konfessionen, sich wieder zu vereinen oder gleichberechtigt friedlich miteinander auszukommen. Der Kern des bis heute wirksamen Zwiespaltes wird bei der Eucharistiefeier, in das Duell eingebettet, deutlich:

(1) Obwohl sich die christlichen Konfessionen in einer ökumenischen Entwicklung bis hin zu gemeinsamen Gottesdiensten einander angenähert haben, ist einerseits die Frage, wer aus dem Kelch trinken darf, und andererseits insbesondere die Frage, was aus dem Kelch getrunken wird, ein dogmatisches Dilemma. Wein als Symbol für Christi Blut oder dessen Realpräsenz?

(2) Die Königin begeht hier einen rituellen Selbstmord. Als Mutter dürfte ihr kaum entgangen sein, daß ihr Mann mit verordneter Englandreise, deren merkwürdiges Ende wohl kaum zu verheimlichen war, und mit der Perle ihrem Sohn nach dem Leben trachtete. Als Verkörperung des Staates (1,2,9) geht sie infolge des Glaubenskrieges zugrunde. Shakespeare nimmt hier hellsichtig vorweg, was wenige Jahrzehnte später geschehen wird: Die Puritaner ergreifen 1640 die Macht, köpfen 1649 den König Karl I. und errichten die von ihnen propagierte Republik (real eine Militärdiktatur).

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III. Tragödie des Untergangs

a) Der Präzedenzfall

Ungefähr 333 Jahre nach den fatalen Ereignissen in Helsingör ist Horatio auf der Suche nach Ophelia, da er sie als Zeugin in einem Mordprozeß benötigt. Er heißt nun Horace Benbow und ist Rechtsanwalt, sie heißt Temple Drake, ist die 18jährige Tochter eines Richters und ist eine leichtsinnige Studentin. Beide leben in Yoknapatawpha, einem Schattenreich im Süden der USA, und beide haben das Problem, mit einem Gangster, Verkörperung des lautlosen absolut Bösen, zurechtzukommen. Temple befindet sich in einer aussichtslosen Lage: ständig beobachtet ist sie dort, wo Hamlet Ophelia hingewünscht und der Gangster sie hingebracht hat, in „a nunnery”, allerdings von der üblen Sorte, einem Bordell; ihr erster Ehepartner in spe ist dem Alkohol verfallen, der zweite liegt, vom Gangster erschossen, in einem Sarg, aufgebahrt in einer Wirtschaft, wo die Trauergäste aus einer großen Punschterrine mit Alkohol versorgt in Streit geraten; im allgemeinen Handgemenge wird der Sarg umgestoßen, kracht auf den Boden und gibt den Leichnam frei; sorgfältig wird der Schädel des Toten wieder hergerichtet und der Sarg geschlossen. Über zwei außerordentlich naive junge Männer vom Friseurs-College wird Temple schließlich ausfindig gemacht. Natürlich gibt es keinen König und keine Königin mehr; die weltliche Macht wird von einem schleimigen Senator, Vertreter der korrupten Gesellschaft, und die geistliche Macht von den „church ladies” der Baptisten-Kirche ausgeübt.

William Faulkners Roman Sanctuary von 1931 fängt die Stimmung der Südstaaten der USA ein, einer Region, die sich klimatisch, kulturell, wirtschaftlich und mentalitätsmäßig völlig von den Nordstaaten unterschied, nachdem sie in einem vernichtenden Bürgerkrieg (1861-1865) besiegt und in einer nachfolgenden 12jährigen „Reconstruction Era” im Sinne des puritanischen Nordens umerzogen worden war. Zahlreiche Dokumente aus dieser Zeit haben es ermöglicht, wissenschaftlich die Auswirkungen der für die Bevölkerung traumatischen Ereignisse zu untersuchen und auszuwerten.

(Vergleichbare Untersuchungen wurden auch für das Frankreich nach 1871 und für das Deutschland nach 1918 durchgeführt (Schivelbusch).)

b) Die Reaktionsmuster

Die ersten Reaktionen auf die existenzielle Grunderfahrung einer Niederlage sind Überraschung, Bestürzung und Unglaube. Später folgen in der Regel Ursachen-Suche, Sündenbock-Suche, Ruf nach Rache oder Revanche, Bildung von Widerstandsstrukturen, kulturelle und kämpferische Überlegenheitsgefühle, Suche nach Halt bei charismatischen Persönlichkeiten, Depressions- Erscheinungen wie Resignation, Melancholie, Schwäche, Untätigkeit.

c) Untergangs-Reaktionen im Drama

Im Drama lassen sich praktisch alle späteren Reaktionsmuster auffinden. Hierbei wird deutlich, daß der Ruf nach Rache zwar stark ausgeprägt, ansonsten aber eine von mehreren Reaktionen ist.
1. Ursachen-Suche
Es gibt die Hinweise auf Wittenberg, Ausgangspunkt der Reformation, sowie Hamlets Geißelung der Onkelehe. Bedeutsamer mögen jedoch Hamlets Hinweise auf Fortunas Hände und Finger sein. (2,2,240 + 3,2,70)
2. Sündenbock-Suche
Ihrem Namen nach könnte es sich bei Rosenkrantz und Guildenstern um Juden handeln. Juden wurden früher häufig für allgemeines Unglück verantwortlich gemacht, und wenn Hamlet sie mit der Begründung, sie seien von „baser natur” (5,2,60) in den Tod schickt, so ist dieser Gedanke naheliegend. Allerdings ist auch der Bezug auf den Manichäismus (Dualität von Gut und Böse, von Licht und Finsternis als Glaubensform) nicht auszuschließen; ihre Anhänger waren aus Sicht der Kirche Ketzer und wurden deshalb verfolgt.
3. Ruf nach Rache
Rache sucht einen gewaltsamen Ausgleich zwischen Individuen oder Gruppen, deren Recht verletzt oder deren Ehrgefühl gedemütigt worden ist.(Brockhaus Enz.) Der Vorlage entsprechend ist der Rache- Gedanke im Drama zwar dominant, aber den Rache-Rufen stehen keine Taten gegenüber, auch wenn die Gelegenheit günstig ist. Wesentliche Kriterien eines typischen Rachedramas sind nicht erfüllt (Greenblatt). Bei Hamlet (3,3,87) und bei Laertes (5,2,300) sind es Posen, von einem Schauspieler vorausdeutend gespielt: „Pyrrhus' sword … seemed i'th' air to stick”.(2,2,473 f.)
4. Übrige Reaktionen
Besonders häufig sind Hamlets Äußerungen über böse Träume, Taubenmut, Feigheit, Trübsinn, Übelkeit, Melancholie und Selbstmord. Die Taten seines Vaters stellt er weit über die Verdienste des derzeitigen Königs, und auf dem Friedhof macht er sich über frühere Herrscher großer Reiche wie Caesar und Alexander lustig. Mit Horatio intrigiert er gegen den König, dieser wiederum mit Laertes gegen Hamlet. In beiden Werken wird die fremd gewordene Umwelt als verwildeter Garten (verlorenes Paradies) wahrgenommen.

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C. Nachwort

Dank irischer Unterstützung konnte die katholische Glaubensgemeinschaft in England überdauern und 1829, nach rund 260 Jahren, ihre vollen Bürgerrechte zurückerhalten. 1992 bezeichneten sich rund 30 % der Briten als Katholiken, 38 % als Angehörige nonkonformistischer protestantischer Religionsgemein- schaften und 27 % als der Anglikanischen Staatskirche zugehörig.

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D. Literaturverzeichnis

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