Kommentar-Vorschlag zu John Fords Drama
Schade, dass sie eine Hure war ('Tis Pity She's a Whore)

Gliederung

KOMMENTARANSATZ

A. Hundert Jahre Vergangenheit

I. Pityful Peter und Paul

„Ja, bei der Glocke von St. Paul's! Ihr sagt die volle Wahrheit.“ [Chaucer 1018]

1. The King's Great Matter

Am 28. Juni des regnerischen Sommers 1491, am Vorabend von Peter und Paul, brachte Elisabeth von York, Gemahlin Heinrichs VII. Tudor, im königlichen Palast von Greenwich, acht Kilometer südöstlich von London in der Grafschaft Kent, ihr drittes Kind zur Welt, den späteren König Heinrich VIII. [Ridley 11] Im Alter von zehn Jahren nahm er teil an den Hochzeitsfeierlichkeiten seines älteren Bruders Arthur mit Katharina von Aragon. Er führte am 14. November 1501 die Prozession nach St. Paul's an und geleitete die spanische Braut im Anschluss an die Zeremonie wieder aus der Kirche, ohne zu ahnen, dass er knapp acht Jahre danach dieses Mädchen an seiner Seite selbst ehelichen würde. [Starkmann 151 f.] Am 2. April 1502 bereits starb der fünfzehnjährige Prince of Wales, und am 23. Juni 1503 – fünf Tage vor seinem 12. Geburtstag – wurde der neue Thronfolger mit der siebzehnjährigen Witwe seines Bruders vermählt (schon von „Hamlet“ als Inzest dramatisch gegeißelt). Im Ehevertrag war festgelegt, dass die Ehe drei Jahre und fünf Tage später de facto beginnen sollte. [Starkmann 152/3] 1509 starb Heinrich VII. (21. April), war in der Grey Friars Church in Greenwich die offizielle Heiratszeremonie (11. Juni), und nach seiner Krönung (24. Juni) war er sowohl König von England und Irland als auch von Frankreich, dem der französische König Tribut zu zahlen hatte, abgesichert durch die „Faustpfänder“ (Brückenköpfe) Boulogne und Calais auf dem Festland.

Mit dem Entschluss, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, weil sie ihm den ersehnten männlichen Thronfolger und Garanten seiner Dynastie nicht geboren hatte und dies auch nicht mehr zu erwarten war, setzte er im Frühjahr 1527 seine „Große Sache“ (The King's Great Matter) in Gang. Er hatte vor, nachdem eine Liaison mit Mary Boleyn, die er als Gast auf ihrer Hochzeit am 4. 2. 1520 mit Sir William Carey kennengelernt hatte, Episode geblieben war, deren jüngere Schwester Anne Boleyn zu heiraten. Nach einem jahrelangen erfolglosen Scheidungsprozess mit zahlreichen Gerichtsverhandlungen, zuerst in London zwischen dem 31. Mai und dem 23. Juli 1529 im großen Saal (Blackfriars Theatre) des zwischen Themse und St. Paulskathedrale gelegenen Dominikanerklosters und zuletzt über Anwälte in Rom, heiratete er sie ohne Zustimmung des Papstes vermutlich am 25. Januar 1533, als sie schwanger war, was den Papst bewog, ihn daraufhin als Bigamisten zu bezeichnen, und er forderte ihn bei Androhung des Kirchenbanns auf, die Hure aus seinem Bett zu werfen. [images.zeit] Daraufhin (Anne Boleyn hatte ihn auf das Buch „Obedience of a Christian Man“ von William Tyndale, 1528 veröffentlicht, aufmerksam gemacht. Wahrscheinlich war es aber Cromwell.) machte er sich selbst zum Oberhaupt der englischen Kirche. Unter Anwendung der „Six Artikels“ sowie des sog. „Act in Restraint of Appeals“ (1533) , weiterentwickelt aus den „Heresy Acts“ von 1401 und 1414, welche u. a. festlegten, dass sämtliche innerhalb des Landes entstandenen Rechtsstreitigkeiten auch im Lande selbst zu entscheiden seien, besetzte er die hohen kirchlichen Leitungsstellen mit Bischöfen seiner Wahl, hob die Klöster auf, da sie direkt dem Papst unterstanden und eine universale Struktur – „a cosmopolitan organisation“ (Thomas Cromwell) – besaßen, und er stellte alle Zahlungen an den Vatikan ein, insbesondere die des Peterspfennigs, bestimmt für den Bau des Petersdomes in Rom. (1538 Bannbulle von Papst Paul III.)

2. Fleet Street

Diese Handlungen führten aber auch zur Stärkung von protestantischen Glaubensgemeinschaften. So wurde 1549 (Heinrich VIII. war 1547 gestorben und Eduard VI., der endlich von seiner dritten Ehefrau Jane Seymour geborene männliche Nachkomme, war König) die St. Paulskathedrale samt ihren Nebengebäuden im Kirchhof durch einen von protestantischen Priestern angeheizten Mob verwüstet. In einigen dieser Nebengebäude, die von der englischen Krone als Ladengeschäfte und Renditeobjekte verkauft wurden, richteten sich Buchdrucker und Buchverkäufer ein. In einem dieser Läden, kenntlich durch das Zeichen der (heiligen) drei Könige (at the signe of the three Kings), konnte 1633 erstmalig John Fords Bühnenstück gedruckt erworben werden. Die Idee für dieses Werk könnte John Ford durch ein Ereignis gekommen sein, das zwanzig Jahre zurücklag.

3. All Is True

Am 29. Juni 1613, dem Namens- und Festtag der Apostelfürsten Petrus und Paulus, wurde bei hochsommerlichem Wetter mit strahlendem Sonnenschein im Londoner Globe Theatre William Shakespeares letztes Bühnenstück „All Is True“ uraufgeführt. Die Vorstellung endete abrupt bereits in der vierten Szene, als mit Trommeln und Trompetenschall der Auftritt des als Schäfer verkleideten Königs samt Gefolge angekündigt wurde und zugleich eine der mit Papier und anderem Zeug ausgestopften Theaterkanonen abgefeuert das reetgedeckte Dach des Gebäudes in Brand setzte, woraufhin innerhalb einer Stunde das ganze Theater abbrannte. „In Panik drängten die Menschen nach draußen, wurden gestoßen und geschoben, hatten vom Rauch geschwollene Augen und ließen Hüte, Schwerter und anderes hinter sich.“ Überliefert ist auch, die brennende Hose eines Theaterbesuchers habe ein anderer Besucher geistesgegenwärtig mit Ale gelöscht, das er in einer Flasche mit sich führte. Flaschenbier war eine Novität, erfunden von Alexander Nowell, Rektor der Westminster School und später Dekan der St. Paulskathedrale. Ein anonymer Autor hielt den Vorfall in „A Sonnett upon the pittiful burneinge of the Globe playhouse in London“ fest, dessen sechs Strophen jeweils mit dem Refrain „Oh sorrow, pittiful sorrow, and yett al is true“ endeten. In diesem Flugblatt wird auch berichtet, dass an diesem Tag, einem Dienstag, die Sonne strahlend vom Himmel schien und keine Wolken zu sehen waren, die Regen hätten bringen können.[HHH 267]

4. Tis Pity

Vermutlich hat sich John Ford bei der Wahl des Titels für sein Stück auf jene Szene im zweiten Akt bezogen (sie kam nicht mehr zur Aufführung), wo Anne Boleyn vor ihrer Heirat mit Heinrich VIII. (nach welchem das Werk später umbenannt worden ist) ihrer alten Hofdame gegenüber das Schicksal der verstoßenen Königin beklagt:

„His highness having lived so long with her, and she
So good a lady that no longue could ever
Pronounce dishonour of her – by my life,
She neverknew harm-doing – […] after this process,
To give her the avount, it is a pity
Would move a monster.“ [TNS II,3,2 f.]

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