Kommentar-Vorschlag zu John Fords Drama
Schade, dass sie eine Hure war ('Tis Pity She's a Whore)

Gliederung

B. Auseinandersetzung mit den Lastern

II. Freier Wille und Inzest

In der Personalliste zum Stück hat der Mönch den Namen BONAVENTURA , aber in Text und Handlung bleibt er generell anonym; denn er vertritt die Lehren der Franziskanerschule. Der heilige Bonaventura, mit bürgerlichem Namen Giovanni (di) Fidanza, wurde in der nach einer heilenden Schwefelquelle benannten Stadt Bagnoregio geboren; nach einer alten Chronik, die zu seinem Tode im Jahre 1274 bemerkt, er sei im 53. Jahre seines Lebens verschieden, war sein Geburtsjahr 1221 oder 1222. [PLL 11] Als Generalminister des Franziskanerordens und Günstling des Papstes war er, zusammen mit Thomas von Aquin (beide wurden 1257 gleichzeitig an der Universität von Paris zum Doktor ernannt) einer der beiden einflussreichsten Kirchenlehrer der Scholastik. Kurz und knapp lassen sie sich so charakterisieren:

Thomas enlightened the mind, Bonaventure inflamed the heart.

Thomas extended the Kingdom of God by the love of theology, Bonaventure by the theology of love. [newadvent.org]

Sein Lehrer in Paris war der englische Franziskanerpriester Alexander von Hales, welcher die Freiheitslehre des Willens begründete. Gemäß der Theorie der Franziskanerschule ist das fundamentale Bildwort für den freien Willen das Herz als der organischen und seelisch-geistigen Lebensmitte und Sitz von Liebe und Emotionen. [LexMA] Der biblische Begriff Herz kann synonym verwendet werden für das freie Wollen. Gott hat ein Herz, in dem nach Hos.11,8 Gottes Gerechtigkeit in seine erbarmende Liebe umgebrochen wird, welche wiederum nach Römer 5,5 durch den Heiligen Geist in unser Herz ausgegossen ist. >Voluntas est superior intellectu< Der freie Wille hat den Primat vor dem Intellekt [Hirschberger 450] und steht sogar über den Tugenden, wenn er sich auf die Liebe berufen kann. [LexMA] Auf diese Argumente stützt sich GIOVANNI:

I have asked counsel of the holy Church,
Who tells me I may love you, and 'tis just
That since I may, I should; and will, yes will [I,2,231-234]

Als der Mönch erkennt, dass GIOVANNI nicht bereit ist, seine Todsünde zu beenden geschweige denn sie zu bereuen (Buße galt nach Franz von Assisi als wichtigster Weg ins Himmelreich), flieht er nach Bologna, zu der Universität, welche von Kaiser Justinian ausgehend in den Wissenschaften der Rechte (Beobachtung des sich entwickelnden kanonischen Rechts, Aktualisierung des römischen Rechts unter Wahrung der Gewohnheitsrechte sowie der Sonderrechte des Adels, Ansätze zu einem Naturrecht u. a.) führend war. Jede Wissenschaft wurde zur Quelle des Fortschritts im Glauben und trug zum Einswerden mit Gott in der Liebe, dem höchsten Ziel der Theologie, bei. [ATLAS 15 (van Steenberghen)] Als Strafe für Todsündentäter galt seit Augustinus der zweite Tod, der Tod auch der Seele nach der des Leibes. Ob der damit verbundene Verlust des ewigen Heils eintrat, entschied letztendlich die vom Menschen unvorhersehbare Gnade Gottes.

„Die Ambivalenz des Inzests, der sich einerseits als Tabu, andererseits als Vorrecht darstellt, spiegelt sich in der zwiespältigen Faszination, die er auf die Literatur ausübte. Inzesttäter der Literatur sind, im Gegensatz zumindest zur heutigen Wirklichkeit, Ausnahmemenschen, deren geistige Physiognomien vom tyrannisch-düsteren, aber nie gemeinen Gewalttäter bis zum edlen, exklusiv empfindenden Verwirklicher seiner Leidenschaft abschattiert sind. [Frenzel, Motive 403] Im „Hamlet“ folgte William Shakespeare seinem Vorgänger KYD und dessen Quellen und verstärkte die Notwendigkeit der Rache für einen ermordeten Vater durch den von dem Mörder begangenen Ehebruch und Inzest – einer der wenigen literarisch relevanten Fälle von Inzest zwischen Verschwägerten. Oft zeigt sich das fluchartige Moment des Motivs in den Nachwirkungen und in der Verquickung mit anderen Verbrechen. „So zieht die verheimlichte, aber nicht ohne Folgen gebliebene Liebe von Geschwistern die Rache des betrogenen Gatten und den Tod aller Beteiligten nach sich“ wie beispielsweise in John Fords „'Tis Pity she's a Whore“. [Frenzel, Motive 404] Für die Renaissance und das Barock war der Inzest eines der exemplarischen widernatürlichen Verbrechen, in denen sich die Leidenschaften der negativen Helden entluden. Zeitgenössische Beispiele wie die der Familien Medici und Cenci, Richelieus und der des Inzests zumindest angeklagten Anna Boleyn mögen inspirierend gewesen sein. [Frenzel, Motive 402]

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